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Energiesprong DE

Seriell aus dem Sanierungsstau

Um die Klimaziele der Bundesregierung bis 2045 zu erreichen, muss ein Großteil des 21 Millionen Mehrfamilienhäuser, Ein- und Zweifamilienhäuser sowie Nichtwohngebäude umfassenden Gebäudebestands in den nächsten 20 Jahren energetisch saniert werden. Im Interview erklärt Uwe Bigalke, Leiter des Kompetenzzentrums Serielles Sanieren/ Energiesprong DE der dena, warum der innovative Sanierungsansatz zum Taktgeber und Tempomacher bei der klimaneutralen Transformation des Gebäudesektors werden kann.

Was ist der zentrale Unterschied zwischen konventionellem und seriellem Sanieren?

Uwe Bigalke: Bei der konventionellen Sanierung erfolgen rund 90 Prozent der Arbeiten manuell und kleinteilig auf der Baustelle. Beim seriellen Sanieren ist die gesamte Prozesskette komplett durchdigitalisiert. Das fängt beim Aufmaß per 3D-Scan und Drohnentechnik an und geht über die KI-gestützte Planung und automatisierte Fertigung bis zur smarten Mess-, Steuer- und Regelungstechnik.

Die im Werk vorgefertigten Fassaden-, Dach- und Technikmodule werden auf der Baustelle nur noch montiert. Auf diese Weise lassen sich Bestandsgebäude schneller, wirtschaftlicher und mieterfreundlicher auf Klimakurs bringen.

Ist serielles Sanieren ein Patentrezept für den gesamten Gebäudebestand?

Uwe Bigalke: Nein, nach unseren Portfolioanalysen sind rund 30 Prozent aller MFH perfekt für eine serielle Sanierung geeignet. Hinzu kommen weitere 15 Prozent, bei denen eine serielle Sanierung technisch möglich ist, jedoch noch unklar ist, ob diese auch wirtschaftlich umgesetzt werden kann. Im Nichtwohngebäudesegment bieten z.B. Schulen, Kitas, Sporthallen und Verwaltungsgebäude aufgrund ihrer oft einfachen Kubatur optimale Voraussetzungen. Hinzu kommen etwa vier Millionen EFH, die aus unserer Sicht seriell saniert werden können.

Das Einfamilienhaus-Segment ist sehr individuell. Kann hier auch in Serie saniert werden?

Uwe Bigalke: Seriell sanieren heißt nicht, dass die Gebäude und Elemente immer genau gleich sein müssen, um Serien zu ermöglichen. Seriell bedeutet in diesem Fall, dass ein standardisiertes Verfahren gewählt wird. Die Erfassung der Abmessungen erfolgt bei Einfamilienhäusern genauso wie bei den Objekten einer Mehrfamilienhaussiedlung über einen 3D-Scan und wird in die Fertigung übertragen. So können auch unterschiedliche Gebäude mit dem immer gleichen Prozess und Sanierungsbaukasten auf ein klimaneutrales Niveau gebracht werden.

Serielle Sanierungslösungen gelten als teuer. Wie schneiden sie im Vergleich zu konventionellen Lösungen ab?

Uwe Bigalke: Wie alle Innovationen ist serielles Sanieren anfangs noch etwas teurer als eine konventionelle energetische Modernisierung. Die innovationstypischen Kostennachteile werden durch den BEG-Bonus ausgeglichen. Damit halten sich serielle und konventionelle Sanierungslösungen kostenmäßig in etwa die Waage. Bezieht man allerdings noch andere Faktoren mit ein, wie die höhere Qualität, die Zeitersparnis und die Sanierung in bewohntem Zustand, ist serielles Sanieren schon heute oft wirtschaftlicher. Mittelfristig muss es sich selbstverständlich ohne staatliche Förderung am Markt behaupten. Während das Kostensenkungspotenzial konventioneller Lösungen weitestgehend ausgereizt ist und die Preise künftig inflationsbedingt steigen dürften, ist bei seriellen Sanierungslösungen noch viel Luft nach unten. Seit den ersten Pilotprojekten 2021 sehen wir Kostensenkungen von 30 bis 40 Prozent. Aktuell wird innerhalb der Branche gezielt an den größten Kostentreibern gearbeitet. Ziel ist ein Quadratmeterpreis von unter 1.000 Euro. Serielles Sanieren ist auf dem besten Weg, sich zu einem wachstumsstarken Wirtschaftszweig zu entwickeln. Über die Masse wird perspektivisch auch der Preis klasse.

Einer der größten Vorteile des seriellen Sanierens ist die Schnelligkeit. Wie viel Zeit wird wirklich eingespart?

Uwe Bigalke: Die Lernkurve ist steil. Wir merken, dass bei den zweiten und dritten Projekten die Prozessabläufe zwischen Bau- und Wohnungsunternehmen immer besser funktionieren. Digitale Planung, industrielle Vorfertigung, standardisierte Prozesse und eine effiziente Baustellen-Logistik ermöglichen ein Tempo, das mit konventionellen Verfahren schlichtweg nicht erreichbar ist. Für größere Mehrfamilienhäuser gehen wir künftig von Sanierungszeiten von zwei bis drei Monaten aus. 

Nicht bei allen Gebäuden ist eine Komplettsanierung notwendig. Sind auch serielle Teilsanierungen möglich?

Uwe Bigalke: Serielles Sanieren ist ein flexibles Baukastensystem, aus dem sich jeder Eigentümer eine maßgeschneiderte Lösung für seinen Bestand zusammenstellen kann. Wurden in der Vergangenheit bereits Sanierungsmaßnahmen durchgeführt, werden diese von vornherein berücksichtigt und in das Sanierungskonzept mit einbezogen. Man muss dabei allerdings berücksichtigen, dass der 15-prozentige Bonus nur in Anspruch genommen werden kann, wenn nach der Sanierung Effizienzhausstandard 55 oder 40 erreicht wird.

Viele Eigentümer halten den NetZero-Standard für zu ambitioniert. Muss er immer erreicht werden?

Uwe Bigalke: Der NetZero-Standard ist ein Zielstandard, der schon in vielen Projekten erreicht werden konnte. NetZero bedeutet, dass seriell sanierte Gebäude durch Photovoltaikmodule auf dem Dach und ggf. Teilen der Fassade im Jahresdurchschnitt so viel Solarenergie erzeugen, wie die Bewohnerinnen und Bewohner für Heizung, Warmwasser und Haushaltsstrom benötigen. Dies ist ein entscheidender Faktor für eine mietkostenneutrale Umsetzung von Sanierungsvorhaben. Im Idealfall wird die Modernisierungsumlage durch hohe Energieeinsparungen von bis zu 90 Prozent und dauerhaft günstigen, selbst erzeugten Mieterstrom kompensiert. Damit ist ein hoher Energieeffizienzstandard wie der NetZero-Standard oder alternativ z.B. der Effizienzhaus 55 EE-Standard eine wichtige Stellschraube für die klima- und sozialverträgliche Bestandssanierung.

Mieterinnen und Mieter stehen Sanierungen generell kritisch gegenüber. Welche Vorteile bieten serielle Sanierungen den Bewohnenden?

Uwe Bigalke: Ziel der seriellen Sanierung ist eine mietkostenneutrale Umsetzung, bei der sich die Sanierung aus hohen Energieeinsparungen und geringeren Instandhaltungskosten refinanziert – ohne Mehrbelastung für die Mieterinnen und Mieter. Im Idealfall sollen die Bewohnenden unterm Strich nicht mehr zahlen als vorher. Das geht noch nicht in allen Fällen ganz auf, ist aber in greifbarer Nähe. Da sich die Bauzeit vor Ort und damit die Belastung durch Lärm und Staub auf ein Minimum reduziert, müssen die Mieterinnen und Mieter nicht ausziehen, sondern können während der Sanierung in ihren Wohnungen bleiben. Zudem profitieren sie von einem höheren Wohnkomfort.

Serielles Sanieren wird häufig mit Plattenbau assoziiert. Sehen seriell sanierte Gebäude immer gleich aus?

Uwe Bigalke: Nein, denn mit Industrie & Handwerk 4.0 sind auch in der Serienfertigung umfangreiche individuelle Anpassungen möglich. Ein Blick auf bereits realisierte serielle Sanierungsprojekte zeigt die gestalterische Vielfalt. Jeder Pilot ist ein architektonisches Unikat, das sich optimal in das städtebauliche Umfeld einfügt. Besonders im Hinblick auf die architektonisch und qualitativ oft wenig überzeugenden Nachkriegsbauten bietet sich im Rahmen einer seriellen Sanierung sogar die Chance einer „Stadtreparatur“, indem die energetische Modernisierung mit einer gestalterischen Optimierung kombiniert wird.

Serielles Sanieren bietet durch den hohen Standardisierungs- und Vorfertigungsgrad großes Nachhaltigkeitspotenzial. Wie kreislauffähig sind serielle Sanierungslösungen?

Uwe Bigalke: Kreislauffähigkeit ist beim seriellen Sanieren kein Muss, perspektivisch aber ein großes Plus. Denn vorgefertigte Fassaden-, Dach- und Technikmodule können als Materiallager dienen – wenn die Weichen schon während der Planung in Richtung Zirkularität gestellt werden. Wichtig ist dabei, dass sich alle verbauten Materialien am Ende des Lebenszyklus sauber voneinander trennen lassen. Dies setzt kreislauffähige Konstruktionsprinzipien voraus. Durch die Nutzung von BIM entlang der gesamten Wertschöpfungskette können alle Informationen erfasst werden, die für die Erstellung eines Materialpasses notwendig sind: Menge, Herkunft, Qualität, CO2-Bilanz sowie weitere Kriterien. Das erleichtert die spätere Rückführung in den Wertstoffkreislauf – und macht seriell vorgefertigte Module zu einem Rohstoffdepot für die nächste Generation von Gebäudemodulen. Jedes Material, das wiederverwendet wird, muss nicht produziert werden und spart somit Rohstoffe, Energie und Treibhausgasemissionen ein. Das ist nicht nur aus ökologischer Sicht sinnvoll, sondern rechnet sich angesichts immer knapper werdender natürlicher Ressourcen und explodierender Rohstoffpreise auch wirtschaftlich.

Wird serielles Sanieren nach dem Energiesprong-Prinzip auch in anderen Ländern umgesetzt?

Uwe Bigalke: Ja, unter dem Dach der Global Energiesprong Alliance wird das in den Niederlanden entwickelte Sanierungskonzept auf europäischer und internationaler Ebene von lokalen Partnerinstitutionen in den Niederlanden, Frankreich, Großbritannien, Italien, Kanada und den USA vorangetrieben. Aktuell beobachten wir ein wachsendes Interesse aus Österreich, Belgien, Moldawien und den baltischen Staaten. Für ihren zukunftsweisenden Sanierungsansatz wurde die Energiesprong-Initiative Anfang des Jahres mit dem renommierten Gold World Habitat Award ausgezeichnet. Der von den Vereinten Nationen unterstützte Preis würdigt innovative und nachhaltige Wohnkonzepte mit Vorbildcharakter.

Aktuell steht das Thema Energieeffizienz im Fokus einer kritischen Debatte. Warum reicht der Umstieg auf erneuerbare Energien allein nicht aus?

Uwe Bigalke: Wenn wir alle Sektoren bis 2045 mit geringerer Effizienz elektrifizieren, wird der Stromverbrauch nach Berechnungen der dena-Leitstudie von derzeit ca. 550 Terrawattstunden auf etwa 875 Terawattstunden ansteigen – bei geringerer Energieeffizienz sogar auf 930 Terrawattstunden. Wenn die Erneuerbaren in dem Tempo zulegen, wie 2023, werden wir 2045 aber nur ca. 600 Terrawattstunden erneuerbare Energien zur Verfügung haben. Wir sind also gut beraten, mit den zur Verfügung stehenden erneuerbaren Energien sparsam umzugehen. Ohne eine deutliche Steigerung der Sanierungsrate würden wir einen Teil des regenerativ erzeugten Stroms wieder zum Fenster rausheizen. Das ist schlichtweg der falsche Weg und würde die Mieterinnen und Mieter teuer zu stehen kommen. Zumal überdurchschnittlich viele Menschen mit kleinem Einkommen in Gebäuden mit besonders schlechter Energieeffizienz wohnen. Um einkommensschwache Haushalte dauerhaft vor steigenden Energiepreisen zu schützen, muss die Sanierungsrate rauf, damit der Energieverbrauch sinkt. Der Umstieg auf erneuerbare Energien ist zur Erreichung der Klimaziele ebenso essenziell wie eine effiziente Gebäudehülle und -technik. Serielles Sanieren verbindet alle drei Maßnahmen in einem Konzept und kann damit zur Schlüsseltechnologie für die Wärmewende im Bestand werden.

Was wünscht sich die serielle Sanierungsbranche von der nächsten Bundesregierung?

Uwe Bigalke: Der größte Wunsch der Branche ist, dass der BEG-Bonus von einer neuen Bundesregierung nahtlos fortgeführt wird. Die Unternehmen brauchen Planungssicherheit, damit sich die Erfolgsstory mit der gleichen Dynamik fortsetzen kann. Aus einer unkonventionellen Idee hat sich ein wachstumsstarker Wirtschaftszweig mit einem potenziellen Marktvolumen von 150 Mrd. Euro entwickelt. Der 2023 eingeführte BEG-Bonus hat sich als wirksamer Impulsgeber für die Marktentwicklung erwiesen, der  sich sowohl ökologisch als auch ökonomisch auszahlt. Er sollte deshalb so lange weitergeführt werden, bis serielles Sanieren in der Breite angekommen ist. Die Branche wünscht sich außerdem den Abbau bürokratischer Hürden und Hemmnisse. Denn weniger Bürokratie bedeutet mehr Gestaltungsfreiheit und geringere Kosten.

Pressekontakt

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Ariane Steffen

Kommunikation Wohnungswirtschaft und Nichtwohngebäude

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